Worte des Pr?sidenten der Humboldt-Universit?t zu Berlin zur Abschiedsvorlesung von Heinrich August Winkler, 14.02.2007
Für gew?hnlich, sehr verehrter, lieber Herr von Weizs?cker, lieber Bischof Wolfgang Huber, lieber Herr Momper, meine Herren Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren und natürlich und insbesondere verehrter, lieber Herr Winkler und liebe Frau Winkler, für gew?hnlich beginnen historische Darstellungen ebenso wie historische Vorlesungen mit Bemerkungen zur Abgrenzung von Epochen – mindestens der Epoche, die Gegenstand der Darstellung, der Epoche, die Gegenstand der Vorlesung ist. Die allermeisten unter uns kennen solche abgrenzenden Bemerkungen – Zeitgeschichte sei die Epoche der Mitlebenden, formulierte beispielsweise der Doktorvater von Heinrich August Winkler. ?Der lange Weg nach Westen“ beginnt ganz anders. ?Historische Darstellungen bedürfen eines Fluchtpunktes“, schreibt Winkler im Vorwort des ersten Bandes. Auf den ersten Blick hat die Vorstellung von notwendigen Fluchtpunkten historischer Darstellungen sehr wenig mit der klassischen Epochenvorstellung zu tun; in Droysens Historik gibt es zu jeder Epoche der Geschichte eine epochemachende Tatsache, einen uranf?nglichen Punkt, der alles in Bewegung setzt, eben eine e1poch3 im ganz und gar w?rtlichen Sinne des griechischen Begriffs, ein fixer Punkt, von dem aus alles in Abh?ngigkeit definiert wird – eine aus der astronomischen Fachliteratur der Antike stammende Vorstellung von Epoche, die die Wahrnehmung von Geschichte über lange Zeit gepr?gt hat: ?Von hier und heute“, irgendwo im Departement Marne, am 20. September 1792 und so weiter und so fort.
Winklers langer Weg nach Westen setzt nicht mit einer einzigen epochemachenden Tatsache ein, sondern zieht Linien auf die zentralen Fluchtpunkte der Jahre 1933, 1945 und 1990 von Pr?gungen aus, vom Reich und seinem Mythos, der konfessionellen Spaltung und dem Gegensatz zwischen ?sterreich und Preu?en, von den diversen Spielarten gesamtdeutscher und partikularer Identit?t. In Hunderten von Jahren gewachsene Pr?gungen, die sich nicht auf einen Punkt in Raum und Zeit zusammenziehen lassen. Und doch: ?Grundtatsachen“ nennt Winkler diese Pr?gungen immer wieder einmal – und sp?testens an dieser Stelle wird einem aufmerksamen Leser deutlich, da? Winkler die klassische historiographische Vorstellung von der Epoche als dem einen fixen Punkt des Beginns zwar aufgegriffen, aber durch die Rede vom Fluchtpunkt, schon rein sprachlich betrachtet, merklich dynamisiert hat – ein neuzeitlich beschleunigter, dynamisierter Epochenbegriff, in dem Pr?gungen und Fluchtpunkte an die Stelle der einen pr?genden, epochalen Tatsache treten, der Verlauf an die Stelle blo?er Standbilder.
Am heutigen Tage, so scheint es
jedenfalls dem Pr?sidenten der Humboldt-Universit?t, liegt es nahe, das
n?mliche Stichwort ?Epoche“ aufzurufen. Denn mit dem offiziellen
Abschied Heinrich August Winklers von seinem Lehrstuhl geht scheinbar
definitiv eine Epoche unserer alma mater Berolinensis zu Ende,
die Epoche des Neuaufbaus dieser Universit?t nach der Wende. Wer je das
Vergnügen hatte, Herrn Kollegen Winkler von seinen beschwerlichen
Berliner Anf?ngen im Herbst 1991 erz?hlen zu h?ren, beispielsweise
davon, da? die Schreibmaschinen für das Büro auf dem Sperrmüll geholt
werden mu?ten und das Gehalt nicht auf ein Westberliner Konto
überwiesen werden konnte, der ahnt, gegen welche Jahrzehnte alten
Pr?gungen hier angegangen werden mu?te.
Im allt?glichen Kampf gegen den ?sch?nen Schein der Erneuerung“ und
gegen die uralten deutschen Sonderwegs-Mythen im Universit?tsalltag.
Heinrich August Winkler hat gemeinsam mit den anderen Kollegen des
Neuanfangs dafür gesorgt, da? sich solche Pr?gungen unseres Hauses
verloren haben und wir nun wieder eingetreten sind in den Kreis von
Universit?ten, zu dem wir einst geh?rt haben. Anl??lich Ihrer
Abschiedsvorlesung, lieber Herr Winkler, m?chte ich in aller Form und
vor dieser gro?en ?ffentlichkeit festhalten: Sie haben sich um die
Humboldt-Universit?t zu Berlin verdient gemacht – in einem Ma?e
verdient gemacht, das mit dürren Worten nicht ausreichend beschrieben
werden kann, schon gar nicht von einem Pr?sidenten, der vor knapp drei
Jahren an eine so ganz anders gepr?gte Universit?t berufen wurde als
Sie sie vorfanden.
Welche Pr?gungen haben Sie dieser Universit?t vermittelt? ?Ich geh?rte eben zur Rothfelsschen Linken“ – so lakonisch haben Sie sich selbst für das Jahr 1976 charakterisiert und immer wieder auch die anderen Orientierungsfiguren genannt: Eugen Rosenstock-Huessy, Karl L?with, aber auch Richard L?wenthal oder Ernst Fraenkel und natürlich Hans Rosenberg, dem zu Ehren die Heinrich August und D?rte Winkler-Stiftung alle zwei Jahre einen Preis für Nachwuchshistoriker vergibt. Aus diesen Ihren individuellen Pr?gungen leiten sich auch die Pr?gungen ab, die Sie dieser Universit?t zu vermitteln versucht haben: zu allererst der Geist nüchterner, sachlicher Arbeit fern der ideologischen Verh?rtungen und Geschichtsmythen, unter denen allzumal die Berliner Universit?ten so elend lang gelitten haben, der helle, klare, frische Geist der K?nigsberger Aufkl?rung, und dann auch eine ganz charakteristische Synthese von klassischer Politikgeschichte und Sozialgeschichte, von – wenn ich das so sagen darf, Sie haben es ?hnlich formuliert – Preu?entum und Sozialdemokratie, nicht zuletzt eine Integration der Perspektive der Exilanten in die Geschichtsschreibung dieses Landes – Sie bekennen sich im selben Atemzug zu Hinsichten, in denen ?Ranke durchaus noch nicht überholt ist“ und beklagen doch gleichzeitig den methodischen Konservativismus der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945.
Angesichts des Themas Ihrer Abschiedsvorlesung liegt es aber nahe, eine Pr?gung besonders herauszugreifen, die Ihre wissenschaftlichen Arbeiten ebenso charakterisiert wie Ihre Arbeit als akademischer Lehre hier an der Humboldt-Universit?t. Im Vorwort zum zweiten Band Ihres Langen Wegs nach Westen formulieren Sie sehr direkt: ?Die Wertma?st?be, von denen ich ausgehe, sind die der westlichen Demokratie. Mein Freiheitsbegriff ist nicht der relativistische“. Das energische Eintreten für die westlichen Werte, ?obenan die unver?u?erlichen Menschenrechte“, pr?gt beispielsweise auch Ihre Stuttgarter Rede ?Was h?lt Europa zusammen?“ aus dem vorvergangenen Jahr. Wir k?nnen, lieber Herr Winkler, von diesem Ihrem Pl?doyer für die Werte lernen, wenigstens an der Humboldt-Universit?t nicht zu ertrinken im allt?glichen Einerlei konkreter Probleme – das Stichwort ?Studentenberg“ rauscht beispielsweise gerade durch den Bl?tterwald. Wenn auch wir hier die Forderung nach noch mehr Geld für noch mehr Studierende für die letzte Weisheit der deutschen Universit?t halten würden, dann h?tten wir das Erbe der Wendezeit verspielt und herzlich wenig von Ihnen gelernt. Wenn wir dagegen fragen, wie der europ?ische Wert nicht relativistisch gedachter Freiheit im konkreten Studienalltag, bei der n?tigen Reform des Bologna-Prozesses und bei der disziplin?ren Fortentwicklung unserer Universit?t zur Geltung gebracht werden kann, dann bleiben Sie hier auch nach Ihrer Abschiedsvorlesung pr?sent, pr?gen uns weiter.
Und das bringt mich auf eine letzte Frage: Ist’s wirklich eine Abschiedsvorlesung? Und wirklich das Ende einer Epoche dieser Universit?t? Da zeigt sich noch einmal die klassische Problematik des Epochenbegriffs. ?Ich habe kaum n?tig, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, da? es in der Geschichte ebensowenig Epochen gibt wie auf dem Erdk?rper die Linien des ?quators und der Wendekreise, da? es nur Betrachtungsformen sind“. In mancher Hinsicht ist auch Droysen noch nicht überholt: Eben doch kein Ende einer Epoche. Sie werden weiter hier lehren, unter dem Titel ?Europa denken“ am unvollendeten Projekt der westlichen Wertegemeinschaft arbeiten – und, lieber Herr Winkler, Sie ahnen, wie sehr ich mich darüber freue, da? ?hier und heute“ keine Epoche, kein Ende, sondern h?chstens eine Z?sur gesetzt wird und der Fluchtpunkt noch in ferner Zukunft liegt. Ich danke Ihnen namens der ganzen Universit?t, grü?e die G?ste aufs Herzlichste und freue mich auf Ihre Vorlesung über die westliche Wertegemeinschaft.