Gru?wort anl??lich des einhundertfünfundsiebzigj?hrigen Bestehens der Universit?tsbibliothek
24. November 2006
?Das Paradies“, hei?t es bei Jorge Luis Borges, ?habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“. Wenn man sich, verehrte Bibliotheksdirektorinnen und Direktoren, sehr geehrte Mitarbeiter von Universit?tsbibliotheken und insbesondere liebe Mitarbeiter unserer Universit?tsbibliothek, wenn man sich dazu klarmacht, da? Borges im Alter von fünfzig Jahren vollst?ndig erblindete, dann hat sein Satz über das Eschaton als Paradies des Lesens einen sehr tiefen und bewegenden existentiellen Hintergrund. Vielleicht wird Sie nicht verwundern, da? ein Universit?tspr?sident, auf dessen Schreibtisch Tag für Tag bis zum Rand gefüllte grüne, blaue und gelbe Postmappen liegen und dem schon beim Betreten die Sekret?rinnen blaue Plastikmappen mit der Aufschrift ?Eilt“ entgegenschwenken, dem Satz von Borges ebenfalls einen tiefen existentiellen Sinn abgewinnt, allzumal wenn er dazu noch von der Profession her evangelischer Theologe ist: Das Paradies habe ich mir schon immer als eine Art Bibliothek vorgestellt, aber seit Anfang Januar bin ich noch mehr davon überzeugt, da? das Paradies eine Art Bibliothek ist – eine Bibliothek, in der ich endlich einmal in Ruhe lesen darf, die Bücher, die ich gern lesen mag, wunderbar gebundene, von kundigen Herstellern in gepflegten Typen gesetzte, auf ewig alterungsbest?ndigem Papier gedruckte, tiefsinnige und doch leicht geschriebene, eben himmlische Bücher, die Horizonte ?ffnen, nicht die gelegentlich nur schwer ertr?glichen Vorlagen, Gutachten und Statistiken, die unsere Hochschulforschungsinstitute und Gremien produzieren.
Aber, verehrte Damen und Herren, bevor ich jetzt eine Diskussion darüber provoziere, ob in der paradiesischen Bibliothek auch elektronische Medien vorr?tig gehalten werden oder wir uns statt richtigen Büchern mit frei zug?nglichen Aufs?tzlein auf himmlischen Dokumentenservern begnügen müssen, ob es im Himmel noch die gro?en alten deutschen und internationalen Verlage gibt oder ihnen von der open access-Bewegung im Internesse freier Zug?nglichkeit der Information so endgültig das Handwerk gelegt wurde, wie das ein von mir bewunderter und gesch?tzter Mathematiker der Technischen Universit?t zu Berlin seit Jahren fordert – ehe ich also meine Hoffnungen für die Ewigkeit in die Niederungen unserer Zeitlichkeit ziehe, kehre ich lieber den Satz des argentinischen Schriftstellers ein wenig um: ?Die Bibliothek habe ich mir immer als eine Art Paradies vorgestellt“.
Stimmt der Satz aber, wenn man ihn umdreht? Als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bibliotheken, als Direktorinnen und Direktoren, aber natürlich auch als Benutzer wissen Sie, da? unsere Bibliotheken oft eher kein Paradies sind, gelegentlich das glatte Gegenteil: Auch hier viel zu wenig Geld, zu viele Benutzer, zu wenig Bücher, kein Geld für Restaurierung – das alte Lied. Und manchmal nicht einmal ein wirklich passendes Geb?ude. So war das in Jena, als ich 1994 dort Ordinarius für Kirchengeschichte wurde; die Universit?tsbibliothek war in den letzten Kriegstagen zerst?rt und mehr schlecht als recht in Provisorien untergebracht. Und auch die gro?e alte Berliner Universit?tsbibliothek hat mit dem Schr?dinger-Zentrum und dem gro?en Neubau für das Grimm-Zentrum erst in den letzten Jahren die seit über hundert Jahren eigentlich notwendigen gro?en eigenst?ndigen Geb?ude bekommen. Wie an vielen Stellen unserer deutschen Universit?tslandschaft gilt auch hier: Mit beschr?nkten Mitteln wird Gro?es geleistet und unverdrossen der Mangel so verwaltet, da? ein schlichter Benutzer gar nicht erkennt, wie mangelhaft die Ausstattung an vielen Punkten ist. Mir liegt heute angesichts des Jubil?ums sehr daran, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Universit?tsbibliothek für das Engagement zu danken, mit dem sie ihre Arbeit in den letzten Jahren getan haben und gegenw?rtig tun, für ihre Sorgfalt, ihre Aufmerksamkeit, aber auch für ihre Neugier im Umgang mit alter Literatur und neuen Medien. Die gro?e Verantwortung, die die Wissenschaft für die Bewahrung, Pflege und Weitergabe von Büchern und Medien tr?gt, ist uns an dieser Universit?t hoffentlich deutlicher bewu?t als anderswo, an dieser Universit?t, an der einmal eine Antrittsvorlesung eines P?dagogen im sch?nen Mai des Jahres 1933 mit den barbarischen Akt einer Bücherverbrennung vor den Toren des Hauptgeb?udes geendet hat. Wie gesagt: Da? sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach den nicht nur für Bibliotheksbenutzer finsteren Zeiten des vergangenen Jahrhunderts versuchen, die Bibliothek als eine Art Paradies zu gestalten und in den finsteren Zeiten dies in einzelnen Nischen auch versucht wurde, verdient unsere gro?e Anerkennung und unseren hohen Respekt.
Ein wenig frech hatte ich den bekannten Satz von Borges umgedreht
und formuliert: Die Bibliothek und insbesondere unsere
Universit?tsbibliothek habe ich mir immer als eine Art Paradies
vorgestellt. Wenn unser gro?es Grimm-Zentrum dann einmal vierundzwanzig
Stunden ge?ffnet haben wird, dann ist ein wichtiger Schritt hin zur
paradiesischen Bibliothek vollzogen, die ewige ?ffnung, die in den
virtuellen Bibliotheken dieser Welt l?ngst selbstverst?ndlich ist. Ob
dann tats?chlich das Paradies der Theologen und der Bibliothekare
zusammenf?llt, ob dann das Paradies eine Bibliothek und die Bibliothek
ein Paradies ist – das ist eine schwierige theologische wie
bibliothekswissenschaftliche Frage, mit der ich mein Gru?wort nicht
belasten will. In Borges ?Bibliothek von Babel“ ist die Welt als
pr?existenter und unendlicher Büchertempel vorgestellt, der eine
unendliche Menge von Büchern enth?lt, die nur für eine kleine Gruppe
der Bewohner verst?ndlich sind. Vielleicht sind wir von der
Realisierung einer solchen Vision, die auf merkwürdige Weise die H?lle
und das Paradies verwebt, nicht mehr sehr weit entfernt. Aber, meine
Damen und Herren, wir sind uns ja vermutlich alle einig, da? wir vor
der H?lle der Unverst?ndlichkeit nur dann bewahrt bleiben, wenn
Menschen lesen und verstehen k?nnen. Daran wird in der Berliner
Universit?tsbibliothek seit hundertfünfundsiebzig Jahren gearbeitet.
Dazu gratuliere ich und wünsche alles erdenkliche Gute.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Pr?sident der Humboldt-Universit?t