Lesung aus den Tagebüchern Harry Graf Ke?lers von Bundesminister Peer Steinbrück und Karin Hempel-Soos
Gru?wort am 14. November 2007
Sehr verehrter Herr Bundesminister,
sehr geehrte Frau Hempel-Soos,
verehrte Damen und Herren,
?Sinngebung der Zeit aus der Perspektive einer Pers?nlichkeit“ – mit diesen programmatischen Worten hat Harry Graf Ke?ler im April 1932 erste ?berlegungen zur Technik des Schreibens von Memoiren eingeleitet: ?Sinngebung der Zeit aus der Perspektive einer Pers?nlichkeit. Eben darum Perspektive, Rangordnung der Dinge und Geschehnisse im Hinblick auf die Pers?nlichkeit und ihr Drama, ihre wechselnden Situationen, ihre Tragik oder Tragikomik“ (Katalog Marbach, 494). Wir freuen uns, verehrter Herr Bundesminister, sehr geehrte Frau Hempel-Soos, da? sie heute hierher gekommen sind, um aus den Tagebüchern des ?homme de lettres“ ?Harry Clément Ulrich Comte de Kessler“ zu lesen, wie es auf der Anzeige hei?t, die im November 1937 den Tod des Grafen im franz?sischen Exil anzeigt.?
Bekannt geworden als lesendes Paar sind sie, lieber Herr Steinbrück
und liebe Frau Hempel-Soos, mit einem Abend zum berühmten Briefwechsel
zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger – erotische Eskapaden eines
deutschen Akademikers in eigens entworfener hessischer Trachtenjoppe,
Texte, die sich kaum vergleichen lassen mit den Notaten Ke?lers, der
zwar nie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universit?t studiert hat,
unserer Vorg?ngereinrichtung (vielmehr an der Bonner
Schwesteruniversit?t), aber nach seiner Zeit als Potsdamer
Einj?hrig-Freiwilliger seit 1893 sich oft hier in der N?he aufhielt –
das Weinrestaurant ?Zum Schwarzen Ferkel“, Unter den Linden Ecke Neue
Wilhelmstra?e, wird mindestens den Kennern der Genossenschaft ?Pan“
vertraut sein. Die Milieus des jungen Marburger Dozenten Heidegger und
des jungen Berliner – Verzeihung: Spandauer – Gerichtsreferendars
Ke?ler lassen sich kaum vergleichen: Zwischen dem hessischen Maler Otto
Ubbelohde, der Heideggers Trachtenjoppe entwarf, und dem Hofbildhauer
Reinhold Begas, in dessen Salon Ke?ler für Genossenschaft und
Kunstzeitschrift ?Pan“ geworben wurde, klafften denn doch Welten,
zwischen dem Getriebe in der K?thener Stra?e am Potsdamer Bahnhof, wo
Ke?ler bereits 1897 in Van-de-Velde-Mobiliar wohnte, und dem
beschaulichen Landuniversit?tsst?dtchen Marburg lassen sich nur schwer
Parallelen ziehen. Allenfalls über Friedrich Nietzsche, den Ke?ler in
seiner Autobiographie von 1935 ex post h?chst kritisch als
?Rattenf?ngergenie“ bezeichnet (283) k?nnte man Verbindungen
herstellen: ?Seit Byron hatte kein Rattenf?ngergenie so unwiderstehlich
die Besten einer ganzen Jugend hinter sich gezogen“, schreibt Ke?ler,
?er stellte uns in ein neues geistiges Klima“.
Man ahnt auch als Pr?sident einer 三亿体育·(中国)官方网站 und als Theologe, der selbstverst?ndlich von Berufs wegen nur Ke?lers Versuch einer religi?sen ?berh?hung seines Innenarchitekten van de Velde unter dem Titel ?Kunst und Religion“ kennt, was eine Schriftstellerin und einen Politiker an Harry Graf Ke?ler fasziniert: Hofmannsthal h?hnt über die ?zehntausend Bekannten“, die sich im Tagebuch finden, der Korbmacher-Verein Tannroda m?chte Teil der Weimarer Kunstgewerbebewegung werden, Max Reinhardt und Edvard Munch sitzen in der Cranachstra?e 15 und irgendwo im Bücherregal steht bis heute in deutschen Bildungshaushalten noch ein B?ndchen der ?Gro?herzog Wilhelm Ernst Ausgabe deutscher Klassiker“; aber eben auch mehr als nur ein homme de lettres in bekannt deutscher Politikdistanz, ein Politiker, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einen Plan zu einem V?lkerbunde auf Grund einer Organisation der Organisationen (Weltorganisation) entwarf. ?Ohne eine alles umfassende Weltorganisation kann die Zerrüttung der Weltwirtschaft und des ?ffentlichen Geistes der Welt nicht behoben werden“, hei?t es in den Leits?tzen, die die Richtlinien für einen wahren V?lkerbund er?ffnen; der ?rote Graf“ wird zum Spitzenkandidat der Deutschen Demokratischen Partei und spricht in Bad Oeynhausen.
Wir freuen uns, lieber Herr Steinbrück und liebe Frau Hempel-Soos,
da? sie Texte eines Menschen in Erinnerung rufen, der sich zeitlebens
in einem Zustand der Isolation w?hnte und selbst als ?Prediger in der
Wüste“ bezeichnete [1] und sich doch vor Bekannten
nicht retten konnte; ein Museumsdirektor, der das klassische Museum als
Ort touristischer Neugier kritisiert, ein nach t?glichen Quengeleien
entlassener Museumsdirektor, der doch in Weimar bleibt und schon 1906
nicht glaubt, ?da? das Aufl?sen meiner offiziellen Verbindung mit dem
Hof den Kreis, den wir dort gebildet haben, irgendwie zu tangieren
braucht“ (Katalog, 198). Ein Kreis, in dem es immer wieder zu
Verwerfungen kommt: ?Da? zwischen uns, das hei?t von dir zu mir,
Freundschaft niemals bestehen kann“, schreibt Hofmannsthal an Ke?ler am
29. Oktober 1910. Von Richard Demel stammt schon aus dem Jahre 1901
folgende Charakteristik der Tagebücher: ?Ich meine, Sie werden die
Memoiren unserer Zeit schreiben. Da ist es gerade richtig für Sie, da?
Sie alle Leute, die etwas bedeuten, in allen Lebenslagen kennenlernen
müssen. Ich beneide unsere Enkel darum, dass sie das lesen k?nnen“. [2]
Wir k?nnen es nicht nur lesen, sondern bekommen es
vorgelesen. Mir scheint, da? sp?testens dann klarwerden mu?, da? Hugo
von Hofmannsthal nicht recht hat: Die Ke?lersche Geschichte ist nicht
schrecklich. Sie ist anregend, erschreckend, aufregend, bestürzend,
bewegend, bestürzend aktuell – haben sie herzlichen Dank, da? sie uns
das erneut klarmachen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Pr?sident der Humboldt-Universit?t