Er?ffnung Netzwerk Europ?ischer Universit?ten
Gru?wort am 26. September 2008
Sicherlich kennen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Formulierung "Europa eine Seele geben". Sie stammt ursprünglich von Jacques Delor und ist zugleich die Bezeichnung einer im Jahre 2003 gegründeten zivilgesellschaftlichen Initiative um Volker Hassemer und Wolf Lepenies. Die haupts?chlich aus Berlin stammenden oder zumindest dort wirkenden Initiatoren sind davon überzeugt, da? die Entwicklung Europas auf die Kraft der Kultur angewiesen ist und diese nachhaltig als strategischen Faktor des europ?ischen Einigungsprozesses nutzen mu?. Freilich ist diese Initiative bei weitem nicht der einzige Indikator dafür, da? Jacques Delor mit seiner Formulierung eine Art Motto für europ?isches Engagement von Kulturschaffenden und Wissenschaftlern formuliert hat, das weit über nationale und weltanschauliche Grenzen hinweg überzeugte Europ?er eint. Wenn man die Formulierung "Europa eine Seele geben" in einer der Internet-Suchmaschinen eingibt, dann wird man auf einen wahren Marathon von einschl?gigen Zusammenkünften aufmerksam, die mit der n?mlichen Formulierung übertitelt sind: ein Treffen der von Kardinal K?nig begründeten Stiftung "Pro Oriente", eine Belgrader Fachkonferenz der "Konrad-Adenauer-Stiftung", eine Begegnung des Paderborner Priesterseminars mit parallelen Einrichtungen in Osteuropa und diverse programmatische Reden verwiesen, die sich auf die Formulierung von Delors beziehen und illustrieren, da? der frühere Pr?sident der europ?ischen Kommission einen Nerv der Sache getroffen hat. "Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt", hat er einmal gesagt, nein, Fleisch und Blut, Leib und Seele, ein Gesicht mu? das europ?ische Projekt schon haben, damit es im Blick auf die europ?ische Einigung nicht bei Luthers bekannt lakonischem Satz über seine Ehefrau Katharina von Bora bleibt: "Wo wir sie nun einmal haben, wollen wir sie auch lieben".
Freilich - seit dem ich diesen Satz im Sommersemester 2006 das erste Mal bewu?t geh?rt habe, im Rahmen der Vorlesungen übrigens, die prominente europ?ische Politiker an der Humboldt-Universit?t eingeladen von Walter-Hallstein-Institut für europ?isches Verfassungsrecht an der Humboldt-Universit?t geben, grüble ich über ihn. Weniger deswegen, weil die evangelische Theologie, mein eigentliches Fachgebiet, den Seelenbegriff wie auch die Philosophie, lange pointiert verabschiedet hatte und sich erst mühsam wieder zurückerobert, nicht zuletzt durch eine umsichtige Exegese einschl?giger antiker Texte vor allem im angels?chsischen Raum. Nein, mehr deswegen, weil für den Theologen die Vorstellung, wir k?nnten etwas beseelen, leicht hybrid klingt und nach Anma?ung. Ob wir in der Lage sind, unsterbliche Werte zu schaffen - und sei es für eine so schlechterdings zentrale Sache wie für Europa, darf man auch dann bezweifeln, wenn man wei?, zu welchen rhetorischen Reckaufschwüngen franz?sische Politiker im Unterschied zu deutschen f?hig sind - und Jacques Delor ist ein franz?sischer Politiker. Zurückhaltung gegenüber seiner Formulierung pr?gt freilich viele Ansprachen, die seine Metaphorik trotzdem verwenden. Im Januar 2007 sagte die deutsche Bundeskanzlerin vor dem europ?ischen Parlament, da? man Delors Metaphorik erg?nzen müssen und weiter w?rtlich: "Ich darf mit meinen Worten hinzufügen: Wir müssen Europas Seele finden. Denn eigentlich brauchen wir sie Europa nicht zu geben, weil sie schon bei uns ist" Und Angela Merkel fragt, ob die überall sichtbare kulturelle, aber auch juristische und politische Vielfalt Europas vielleicht diese schon immer vorhandene Seele Europas sei? Ich zitiere sie weiter: "Kaum jemand hat das sch?ner ausgedrückt als der Schriftsteller Karel Capek, ein gro?er Europ?er aus Prag, ich zitiere: "Der Sch?pfer Europas machte es klein und teilte es sogar in winzige Stücke auf, so dass sich unsere Herzen nicht an der Gr??e, sondern an der Vielfalt erfreuen". Und so finden sich allerlei Weiterführungen und Kritiken der Metapher - Merkel erkl?rt die Toleranz für die je schon vorhandene Seele Europas, Papst Benedikt XVI. das Christentum für die vom Verlust bedrohte und wiederzufindende Seele Europas, andere ersetzten die Suche nach der Seele durch die Suche mit der Seele: Europa mit der Seele suchend nach bekanntem Vorbild. Und wieder andere ersetzen der Terminus: Europa ein Herz geben, eine Pers?nlichkeit, einen Charakter. Und sp?testens an dieser Stelle wird deutlich, da? man die Formulierung vernachl?ssigen kann, selbst wenn ihre Exegese Gewinn für die Gestalt der europ?ischen Arbeit bringt - die Sache selbst ist unstrittig und weist auch uns, den Wissenschaftlern an Europas Universit?ten, eine klare Aufgabe zu.
Nicht nur die Berliner Initiative "Europa eine Seele geben" weist immer wieder auf die Bedeutung der jungen Generation hin, auf die Multiplikationswirkung von einschl?gig orientierten jungen Entscheidungstr?gern und solchen, die es einmal werden wollen. Es ist insofern mehr als verst?ndlich, da? die Guardini-Stiftung die Initiative ergriffen hat, sich für eine wirklich durchgreifende Europ?isierung des europ?ischen Hochschulraumes einzusetzen - mithin, um Delors zu variieren, dem Bologna-Proze? eine Seele zu geben. Die Grundidee, nicht nur die formalen Strukturen von Studium in Europa zu harmonisieren, sondern gemeinsame Elemente eines europ?ischen Kerncurriculums darin einzufügen, ist ebenso schlicht wie genial. Jeder unter uns wei?, da? am Anfang des europ?ischen Hochschulraumes im Hochmittelalter ein solches europ?isches Kerncurriculum stand, bis heute reicht ein schmales Bücherbrett, um die einschl?gigen Referenztexte zu versammeln, das Organon des Aristoteles und bestimmte Kommentierungen, aber natürlich auch st?rker fachspezifische Werke wie die "Sentenzen" betitelte Blütenlese des Pariser Bischofs Petrus Lombardus aus Augustinus. Wir wissen natürlich auch alle, da? ein gutes Stück der von Angela Merkel beschriebenen Vielfalt sich einer neuzeitlichen, nur allzuoft national konturierten Pluralisierung verdankt, einer Aufl?sung der jeweiligen europ?ischen canones, die bis zu einem gewissen Grade irreduzibel ist, auch wenn das noch nicht alle wahrgenommen haben. Aber zwischen einem trotzigen oder larmoyanten Beharren auf den sorgf?ltig bewachten geistigen Grenzen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts und einer naiven Sucht nach hochmittelalterlicher Einheit im angeblichen corpus Christianum gibt es ja auch noch, aristotelisch gesprochen, eine via media erneuerter Einheit auf der Basis der europ?ischen Vielfalt, Einheit, die Pluralit?t nicht negiert, sondern integriert. Mir scheint, und das halte ich für das besonders Attraktive an den Planungen, die in den n?chsten beiden Tagen besprochen werden, da? das hier vorgelegte Modell von Elementen eines gemeinsamen Curriculums genau diese heilsame Synthese von Einheit und Vielfalt voraussetzt (oder besser: umsetzt).
Als ich vor l?ngerer Zeit gefragt wurde, ob die Humboldt-Universit?t zu Berlin eine gewisse Federführung bei Antragstellung und Durchführung unseres gemeinsamen Projektes übernehmen kann, habe ich gern und freudig zugesagt - die Gründung unserer Universit?t vor zweihundert Jahren war sehr deutsch, antifranz?sisch nicht nur im gemeinsamen Auftritt von Lehrenden und Studierenden der Universit?t in den Befreiungskriegen. Alexander von Humboldt steht zwar vor dem ehrwürdigen Hauptgeb?ude der alma mater Berolinensis, aber er war nie Professor der Universit?t, sondern nur ihr wohl bis auf den heutigen Tag prominentester Gaststudent und Gastdozent. Humboldt steht vor den Toren, Humboldt mu? immer wieder hineingeholt werden in die deutsche Universit?t, da bildet die Mutter aller Reformuniversit?ten, das moderne Original der Reformuniversit?t keine Ausnahme, sondern nur ein besonders charakteristisches Beispiel. Aber die heute und morgen feierlich inaugurierte Initiative ist nicht nur ein hervorragendes Mittel, Europa eine Seele zu geben, sondern eben auch ein probater Weg, Humboldt nicht vor den Toren der Universit?t stehen zu lassen - so hat es Sinn, da? ausgerechnet wir uns an dieser Stelle besonders engagieren. Da? ich unserer Konferenz, an der ich leider nur partiell teilnehmen kann, daher besonders herzlich einen guten Verlauf und gute Ergebnisse wünsche, versteht sich eigentlich von selbst. Aber manche Selbstverst?ndlichkeiten kann man, wie der Proze? der europ?ischen Einigung lehrt, nicht oft genug wiederholen. Bleibt mir nur die Hoffnung, Sie durch meine Wiederholungen nicht gelangweilt zu haben.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Pr?sident der Humboldt-Universit?t