Hochschulautonomie zum Wohle der Allgemeinheit
Die Wissenschaftsfreiheit hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine institutionelle Seite. Die Hochschulautonomie ist teils explizit in Verfassungstexten verankert, jedenfalls aber im Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit.

Prof. Dr. Matthias Ruffert,
Foto: Dr. Lennart Gau
Die Wissenschaftsfreiheit schützt nicht nur einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sie hat auch eine institutionelle Seite. Diese Gew?hrleistung folgt der historischen Erfahrung, dass sich freie Wissenschaft in dafür geschaffenen Institutionen entfaltet – zum Wohl der Allgemeinheit. In Deutschland, aber letztlich weit darüber hinaus, ist dies untrennbar mit der Universit?tsreform Wilhelm von Humboldts verbunden. Die Wissenschaftsfreiheit der Institution Universit?t findet auch heute noch Niederschlag in Verfassungstexten. So gew?hrleisten manche Landesverfassungen ausdrücklich die universit?re Selbstverwaltung, und in der Charta der Grundrechte der Europ?ischen Union aus dem Jahr 2000, die 2009 Bestandteil des verbindlichen Europarechts geworden ist, hei?t es: ?Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Der Gerichtshof der Europ?ische Union hat diese Gew?hrleistung bereits gegen Ungarn in Stellung gebracht, als es das Orbán-Regime dort unternahm, der Central European University die Arbeitsgrundlagen zu entziehen.
Dort, wo – wie in Berlin – das Landesverfassungsrecht die Selbstverwaltung der Universit?ten nicht ausdrücklich nennt, wird sie aus der Wissenschaftsfreiheit abgeleitet, die in Art.?5 Abs.?3?GG (und wortgleich in Art. 21 der Verfassung von Berlin) festgeschrieben ist. Das Bundesverfassungsgericht hat hier früh vorausschauend den Ton gesetzt und schon 1973 ausgesprochen: ?Art. 5 Abs. 3 GG ist … eine das Verh?ltnis der Wissenschaft zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Danach hat der Staat im Bereich des mit ?ffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebs durch geeignete organisatorische Ma?nahmen dafür zu sorgen, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Bet?tigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten m?glich ist.“, und ferner: ?Organisationsnormen müssen den Hochschulangeh?rigen, insbesondere den Hochschullehrern, einen m?glichst breiten Raum für freie wissenschaftliche Bet?tigung sichern, andererseits müssen sie die Funktionsf?higkeit der wissenschaftlichen 三亿体育·(中国)官方网站 und ihrer Organe gew?hrleisten.“ Diese Leits?tze hat das Gericht bis in die Gegenwart immer wieder hervorgehoben.
Was aber sind ?geeignete organisatorische Ma?nahmen“? Wenn die Gesetzgebung das Organisationsrecht der 三亿体育·(中国)官方网站n schafft, woran soll sie gebunden sein? Die Folgerechtsprechung aus Karlsruhe hat hierfür das Kriterium der ?Wissenschaftsad?quanz“ entwickelt. Organisationsrecht sowie letztlich alle die Universit?ten treffenden Regelungen müssen sich daran messen lassen, ob sie gleichsam dem Wissenschaftsbetrieb dienen. Tun sie dies nicht, bedarf es einer Rechtfertigung, einem Gemeinwohlgut von Verfassungsrang, das kompetenzgem?? und in verh?ltnism??iger Weise geschützt werden soll. Manche Regelung hat die verfassungsgerichtliche Prüfung nicht überlebt, so z.B. ein Hamburgisches Gesetz zur Entmachtung der Fakult?tsgremien zugunsten der Dekanate. Auch heute gibt es Regelungen, deren verfassungsrechtliche Haltbarkeit mit gro?en Fragezeichen versehen werden muss. Manchmal kann man das durch einen kurzen Blick in die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung feststellen wie beim viel diskutierten Eingriff in die Stellenstruktur der Universit?ten durch das BerlHG (der Verfasser dieser Zeilen vertritt einen Normenkontrollantrag gegen diese Regelung). Manchmal sind die Eingriffe subtiler wie beim gegenw?rtig in Nordrhein-Westfalen diskutierten ?Hochschulst?rkungsgesetz“, durch das die Landesregierung ein ?Hochschulsicherheitsrecht“ mit eigenen Tatbest?nden und Sanktionen einführen will, weil vermeintlich das Straf- und Disziplinarrecht nicht hinreichend seien. Ob die sog. ?Viertelparit?t“, also die gleichm??ige Beteiligung aller Gruppen einschlie?lich der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter in den Gremien der Universit?ten, verfassungskonform ist, steht noch nicht fest; hierzu ist ein Verfahren in Karlsruhe anh?ngig. Auch über manche Auswüchse des Personalvertretungsrechts k?nnte in diesem Zusammenhang nachgedacht werden. Eine Universit?t ist eben keine Fabrikhalle und auch keine Bezirksverwaltung.
Wenn ein Verfassungsprozess verloren geht, weil sich die Hochschulpolitik verrennt, ist das bedauerlich, aber korrigierbar, wenn das Verfassungsgericht die Korrektur nicht schon selbst mit Gesetzeskraft ausspricht. Der ?Federstrich des Gesetzgebers“, der auf einen Schlag alles ?ndern (und auch einmal zum Guten wenden) kann, ist eine in der Juristerei gel?ufige Metapher. Der Verlust wissenschaftlicher Reputation und Exzellenz durch wissenschaftsrechtspolitische Fehlentwicklungen ist indes erheblich schwerer heilbar – und nicht durch die Politik selbst, sondern nur durch die Wissenschaft.
Matthias Ruffert ist Professor für ?ffentliches Recht und Europarecht an der Humboldt-Universit?t zu Berlin
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